Bild trifft Ton komprimiert

Damit aus gelegentlichen Sessions mit der Geigerin Ulrike Stortz oder Bildungsprojekten in Zusammenarbeit mir dem Stuttgarter Kammerorchester auch ein eigenständiger Teil meines künstlerischen Werkes wird, habe ich mich nach Frankreich begeben.

Vier Wochen lang beschäftigte ich mich ausschließlich mit mir unbekannten überwigend zeitgenössischen musikalischen Kompositionen.

In ihrem Haus im Hinterland der französischen Südküste ließ es sich hervorragend konzentriert arbeiten. Zugegeben, es war im November/Dezember 2019 nicht die Jahreszeit für den sonnigen Süden, aber das war ja auch gut so. Es sollte schließlich „geschafft“ werden.

In folge lesen Sie das Arbeitstagebuch der Aufenthaltszeit vom 24. November – 25. Dezember 2019.

Erster Tag 27. November 2019

Relativ abgeschottet vom Alltag habe ich mich heute also dem ersten Stück „Neuer Musik“ gewidmet. Enno Poppe, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten meiner Generation, hat 2004 (diese Information stammt von Wikipedia – danke an dieses großartige Lexikon!) ein Stück für Violine, Cello und Klavier geschrieben: Titel „Trauben“. Die drei Stimmen beginnen in dem knapp zwölfminütigen Stück zunächst eine Konversation, es scheint als beschrieben sie – jede aus ihrer Sicht – den Gegenstand der Betrachtung, nämlich Trauben. Jede Figur „spricht“ nach ihrer Façon, jede kommt der Reihe nach dran, unterschiedlich präsent. Im Laufe der Unterhaltung kommt es zur sich überlagernden Vielstimmigkeit, jeder weiß es besser. Aber es bleibt im menschlichen Sinn harmonisch. Am Ende klingt jedes Argument noch einmal leise nach, man geht versöhnt auseinander.

In fünf Versuchen, davon hier drei exemplarisch wiedergegeben, habe ich mich der Komposition angenähert. Herausforderung waren definitiv die 12 Minuten Spielzeit. Da bleibt nicht viel Zeit für den weiten Blick.

Tobias Ruppert, „Versuch 2 zu Enno Poppe – Trauben“, Graphit und Kreide auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Versuch 3 zu Enno Poppe – Trauben“, Kohle auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Versuch 4 zu Enno Poppe – Trauben“, Zeichnung mit Kreide, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Harrison Birtwistle – Eath Dances, 1. Versuch“, Kohle, Graphit, Rötel auf Papier, 120 cm x 100 cm

Zweiter Tag, 28. November 2019 

Harrison Birtwistle schrieb sein Orchesterwerk „earth dances“ im Jahr 1986. Da war der Komponist 52 Jahre alt. Fast wie ich heute. Die Einspielung der Komposition durch das Cleveland Orchestra unter Christoph von Dohnányi läuft etwa 37 Minuten, ich musste sie gleich drei Mal spielen lassen, um einen einzigen, hier wiedergegebenen grafischen Umsetzungsversuch zu realisieren. Gut, 120 cm x 100 m sind auch kein Kleinformat, aber in der Bildenden Kunst noch immer eher normal. Die „tanzende Erde“ hat es mir wirklich nicht leicht gemacht. Flöten und Trompeten, hohe Töne, kurze Töne, sehr vielschichtig, irgendwie unklar. Blechern, schrill. Vielleicht auch bedrohlich. Also ob aus mehreren alten Mobiltelefonen verschiedene Hipster grausige Popmusik der 80-er Jahre gleichzeitig spielen. Aber vielleicht war das einfach nicht mein Tag für eine solche Musik. Dabei war der Vormittag sonnig und angenehm warm. Also beste Voraussetzungen, sich einer Herausforderung zu stellen. Nunja, morgen versuche ich es noch einmal … mit einem kleineren Format.

(P.S.: wer in der Nacht schon hier vorbeigeschaut hat, wird sich vielleicht fragen, warum die Zeichnung heute gedreht ist. Das habe ich heute so entschieden und auch entsprechend gekennzeichnet) 

 

 

 

Tobias Ruppert, „Harrison Birtwistle – Earth Dances, 2. Versuch“, Farbkreide auf Papier, 70 cm x 100 cm

Dritter Tag, 29. November 2019

Wie schon vermutet habe ich mich heute noch einmal mit Harrison Birtwistles Earth Dances beschäftigt. Manchmal muss man einfach eine Nacht über den Dingen schlafen, dann findet sich ein Weg … nundenn, EIN Weg.

 

Anschließend, nach einer Einkaufspause, fokusierte ich auf Rebecca Saunders Komposition „Crimson“ aus den Jahren 2004/04. Saunders, die etwa mein Jahrgang ist, stammt aus London und lebt laut Wikipedia in Berlin. Sie ist mit allem ausgezeichnet, was diue Fachwelt für herausragende Komponistinnnen zu bieten hat. Ich bin ehrlich voller Respekt. „Crimson“, also Scharlachrot, ist für Solo-Klavier geschrieben. Ich habe die Aufnahme von Nicolas Hodges meiner Arbeit zu Grunde gelegt, sie dauert 17: 36 Minuten. Das Stück ist extrem filigran, lässt viel Raum zwischen den Klängen, wenige Akkorde schaffen Schwerpunkte im unklaren, dumpfen, Nachhall. Ansonsten spielen Solostimmen perkussiv ihr Spiel. Ein Sog in Saunders Vorstellung von Purpur entsteht und lässt mich nicht los. Dass ich auch zur passenden Kreide geriffen habe ist eher mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Hätte das Stück „23/345 N zx“ geheißen, hätte ich vielleicht zu einer anderen Farbe gegriffen. Aber Purpur ist ja ohnehin in meiner engeren Wahl …

 

 

Tobias Ruppert, „Rebecca Saunders – Crimson, 1. Versuch“, Graphit auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Rebecca Saunders – Crimson, 2. Versuch“, Farbkreide und Graphit auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Rebecca Saunders – Crimson, 3. Versuch“, Kohle und Rötel auf Papier, 50 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Rebecca Saunders – Crimson, 4. Versuch“, Farbkreide auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Geörgy Kurtág – Streichquartett Nummer 1, 3. Versuch“, Kohle auf Papier, 70 cm x 100 cm

Vierter Tag, 1. Dezember 2019

Obwohl heute Sonntag und dazu auch noch der 1. Advent ist, habe ich mich dazu entschlossen, weiterzuarbeiten. Das Wetter ist schlecht, Dauerregen. So war ich nicht abgelenkt und habe mir Geörgy Kurtág vorgenommen, also einen Vertreter der zeitgenössischen Komposition, der allerdings eineinhalb Generationen vor mir geboren wurde. Das Streichquartett Nummer 1 ist dann auch 10 Jahre vor meiner Geburt entstanden und uraufgeführt. Die Einspielung, die mir heute als Grundlage diente, ist 2016 vom Molinari-Quartett unter der Leitung von Quatuor Molinari eingespielt worden und dauert etwa 13 Minuten. Interessant fand ich die vielen unterschiedlichen Bilder, die mir die einzelnen Sätze vermittelt haben und damit eine klare Abfolge suggeriert haben. Passend zum Wetter vermittelte sich mir eine dunkle Grundstimmung, die ich kontrastierend versucht habe, mit farbigem Akzent oder gleich in provençalischer Farbigkeit anzulegen. Versuch 1 ist zugleich Versuch 2, ich musste mich bei dem doch recht großen Format wieder einmal auf eine zweite Runde einlassen, um hineinzufinden. Der dritte Versuch ist dann nur in Kohle ausgeführt, so, wie ich die Musik eigentlich wahrgenommen habe.

Tobias Ruppert, „Geörgy Kurtág – Streichquartett Nummer 1, 1.+2. Versuch“, Kohle und Tusche auf Papier, 80 cm x 100 cm

Fünfter Tag, 2. Dezember 2019

Mit John Adams hatte ich für heute den richtigen Komponisten ausgewählt, um das sonnige Wetter auch in der Musik gespiegelt zu sehen. Dass es gestern Dauerregen gab, wollte man angesichts des strahlend blauen Himmels nicht glauben. Zum „Warmwerden“ habe ich mir das nur 4-minütige Stück „Short Ride in a Fast Machine“ aus dem Jahr 1986 vorgenommen. Adams ist Jahrgang 1947, gehört also meiner Elterngeneration an. Er ist einer der großen amerikanischen Komponisten unserer Zeit und hat große Kulturpreise für seine Arbeit erhalten. Seine Kompositionen nehmen Bezug auf das gesellschaftliche Leben und werden daher zuweilen kontrovers diskutiert. Wer Schubladendenken mag, würde erwarten, dass ich Adams natürlich der Minimal Music zuordne, was sicher auch für mein 4-Minuten Abenteuer vom Vormittag gerecht wird. Am Nachmittag wollte ich ein aktuelleres Stück bearbeiten: „Absolute Jest“ aus dem Jahr 2010. Der gleiche Klang, aber für meine Ohren wesentlich verspielter und vielschichtiger. Mir haben beide Einspielungen sehr gefallen und auch meine Arbeit beflügelt (die erste vom Orchestre symphonique de Montréal dirigiert von Kent Nagano (erschienen 2019) und die zweite eingespielt vom Doric String Quartet, dem Royal Scottish National Orchestra unter der Leitung von Peter Oundjian). Da ich John Adams Musik schon ein wenig kannte, war es heute sehr leicht, einen Zugang zu finden. 

Tobias Ruppert, „John Adams – Short Ride in a Fast Machine, 4. Versuch“, Kohle auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „John Adams – Short Ride in a Fast Machine, 3. Versuch“, Kohle auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „John Adams – Short Ride in a Fast Machine, 2. Versuch“, Graphit auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „John Adams – Absolute Jest, 1. Versuch“, Kreide auf Papier, 100 cm x 80 cm

Tobias Ruppert, „John Adams – Absolute Jest, 2. Versuch“, Kreide und Kohle auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Helmut Lachenmann – Zwei Gefühle/Musik mit Leonardo, Versuch 3+4″, Kohle, Tusche, Graphit auf Papier, 80 cm x 100 cm

Sechster Tag, 3. Dezember 2019

Helmut Lachenmann wurde 1935 in Stuttgart geboren und ist als Komponist und Hochschullehrer eine der wichtigsten Figuren unserer Stuttgarter Kulturszene. Als Schüler von Luigi Nono, mit dem ich mich auch noch beschäftigen möchte, ist er gewissermaßen ein wichtiges und prägendes Bindeglied zu Komponistinnen und Komponisten meiner Generation. Viele bedeutende Namen finden sich auf der Liste seiner Schülerinnen und Schüler. Wenn ich meinen Ohren Trauen kann, habe ich heute zwei doch sehr unterschiedliche Kompositionen kennengelernt, die aber doch eine eindeutige Handschrift verbindet. Natürlich liegt das auch schlicht am Formalen: Das erste Stück des heutigen Tages heißt „zwei Gefühle. Musik mit Leonardo“ (1991/92) und ist für Ensemble und zwei Sprecher verfasst. Die Sprecher artikulieren Text von Leonardo da Vinci, allerdings nicht zujedem Zeitpunkt in syntaktischer Hinsicht. Vielmehr werden die Worte in einzelne Phoneme zwerlegt, die jeweil unterschiedlich, ja auch ungewohnt intoniert/ausgesproichen werden. Die Stimme ändert dabei nur unmerklich die Tonhöhe, ist also eher rezitierend. Die Sprecher sind für meine Ohren im Vordergrund, möglicherweise liegt das daran, dass die Sprache naturgemäß als bedeutender wahrgenommen wird. Das Ensemble reagiert auf die Textbausteine, hat wenige Abschnitte ohne Sprache. Die Aufnahme, die ich verwendet habe, ist im Jahr 2012 von Lachenmann selbst als Sprecher und dem Ensemble Signal unter der Leitung von Brad Lubmann entstanden und dauert etwa 22 Minuten.

Am Nachmittag habe ich mir dann eine Komposition aus dem Jahr 2005 als Grundlage meiner Arbeit genommen.: „Concertini“ für Ensemble,  2008 vom Ensemble Modern unter der Leitung von Brad Lubmann und Markus Stenz aufgenommen. Für mich ergibt sich dabei ein Bild von zahlreichen Einzelaspekten, die sich nach und nach zu einem Ganzen verweben, obwohl die unterschiedlichen „Szenen“, oder Geschichten, für sich stehen bleiben, präsent bleiben. Morgen will ich mir das noch einmal anhören, mal sehen, was ich dann zu Papier bringe.

Tobias Ruppert, „Helmut Lachenmann – Zwei Gefühle/Musik mit Leonardo, Versuch 2″, Graphit auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Helmut Lachenmann – Concertini“, Kohle, Graphit, Tusche auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Helmut Lachenmann – Concertini, Versuch 2“, Kreide und Kohle auf Papier, 70 cm x 100 cm

Siebter Tag, 4. Dezember 2019

Wie gestern schon vermutet durfte ich heute noch einmal mit Helmut Lachenmann starten und mir die Aufnahme der Concertini zu Gemüte führen. Anders als gestern habe ich versucht, durch Farbigkeit weitere musikalisch aspekte zu verbildlichen. Weiter bleibt es aber für mich ein aus mehreren Motiven zusammengefügtes Gemälde, im entferntesten vielleicht wie eine Art Comic-Strip.

Nach einer kurzen Atempause ging es gleich mit Tristan Murail weiter. Endlich ein Franzose, wo cih mich doch seit über einer Woche in Frankreich aufhalte! Murail wurde 1947 geboren und war esrt Arabist und Wirtschaftswissenschaftler bevor er sich der Komposition zuwandte. Ein Glück, muss ich sagen. Zu seinen Einflussgebern zählen sein Lehrer Olivier Messiaen, aber auch Scelsi, Xenakis und Ligeti. Erstgenannte werde ich mir auch noch vornehmen, zumindest habe ich Beispiele mitgenommen. Ich freue mich darauf. Als erstes habe ich mir ein Solostück für Cello als Arbeitsgrundlage ausgewählt: „Attracteurs étrangers“, etwa 9 Minuten Laufzeit in der wunderbaren Interpretation von Marie Ythier. Dann hatte ich noch lust von derselben Einspielung „C’est un jardin secret, ma sœur, ma fiancée, une fontaine close, une source scellée. (Version for Cello)“ zu bearbeiten (4:32). Dann habe ich mir das Stück „La chambers des Cartes“ vorgenommen, eine brandbneue Einspielung des Ensemble Cairn mit Guillaume Bourgogne & Vladimir Percevic. Und zum Abschluss noch „Winter Fragments Pour Ensemble Instrumental, Sons de Synthèse Et Dispositif Électronique“, eingespielt vom Argento Chamber Ensemble mit Michel Galante & Erin Lesser.

Wunderbar bildreiche Kompositionen, die als kleine Kabinettstücke wie große Gemälde erscheinen. Man verzeihe mir die wenig musikwissenschaftliche ausdrucksweise – wie übrigens in allen Texten! Aber hier begegnen sich ja Bilder und Musiken und der Zeichner schreibt, also werde ich mich hüten, zu versuchen, musikwissenschaftlich zu klingen. Also, Tristan Murail muss ich noch mehr hören. herrlich.

Tobias Ruppert, „Tristan Murail – Winter Fragments Pour Ensemble Instrumental, Sons de Synthèse Et Dispositif Électronique, Versuch 1“, Kohle auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Tristan Murail – La Chambre des Cartes, Versuch 1“, Kohle, Rötel auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Tristan Murail – Attracteurs étrangers, Versuch 2“, Kohle und Tusche auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Tristan Murail – La Chambre des Cartes, Versuch 2“, Kreide, Graphit auf Papier, 100 cm x 70 cm

Achter Tag, 5. Dezember 2019

Zunächst gibt es einen Nachtrag zu meinem gestrigen „Murail-Flow“: Für die Kompostion „La Chambre des Cartes“ hatte ich noch einen zweiten Versuch gestartet, der mir aber beim Fotografieren unvollständig und unklar vorkam. Also entweder wegschmeißen oder nochmal drangehen. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Bei 8:30 Min. ist das auch wirklich keine Zeitverschwendung – nein, es war ein weiterer Genuss. Und heute kann ich die Zeichnung auch vorzeigen.

Tobias Ruppert, „Morton Feldman – For Samuel Beckett, Versuch 1“, Graphit und Kreide auf Papier, 100 cm x 70 cm

Achter Tag, Fortsetzung,

meine Stichwortgeberin in Sachen Musik Ulrike Stortz hat mir für den US-amerikanischen Komponisten Morton Feldman (1926 – 1987) mit auf die Reise gegeben: „Streichquartett (lang oder auch seeeeehr lang). Das war dann gar nicht so einfach, das Richtige zu finden, doch ich entschied mich für das „String Quartet & Orchestra“ aus dem Jahr 1973, eingespielt vom Pellegrini-Quartet zusammen mit dem Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt, unter der Leitung von Lucas Vis. Laufzeit 26 Minuten. Das fand ich jetzt nich sooo lang. Anders wird es dann mit dem Stück „for John Cage“ für Geige und Klavier, das wollte ich dann heute nicht machen (1:11:46). Denn ich hatte schon mit „for Samuel Beckett“, eingespielt vom KNM Streichquartett ein sehr schöne langes und vor allem langsames Stück (42 Minuten). Ich finde, man sieht es der Zeichnung an, dass man bei Feldman wirklich jedem Ton nachspüren kann, er lässt mir als Zuhörer Zeit, mich zu sortieren und meine eigene Strategie zu finden. Feldman war in seinem nicht allzu langen Leben mit wichtigen Vertretern der amerikanischen Malerszene eng befreundet, wie zum Beipiel Mark Rothko. Wer dessen Bilder kennt, weiß, dass man viel Zeit damit verbringen kann, ohne das Gesehene satt zu haben. Und so geht es auch mit Feldmans Musik: Sie hat etwas melancholisches, etwas zartes und auch etwas suggestives. Man muss sich auf sie einlassen, sich die Zeit nehmen. Anders als die Vertreter der Minimal Music entwickelt Feldman komplizierte Klänge, natürlich auch immer wiederkehrend, aber doch differenziert. Kleiner Nebengedanke für alle, die es nicht wissen: Feldman hat auch eine eigene Notation entwickelt, wie zahlreiche andere auch. Sie sollte den Interpreten mehr Raum für Eigenes geben. Allerdings kehrte er am Ende seines Lebens zur klassischen Notation zurück. Ich finde, wenn ein Komponist/eine Komponistin sich mit grafischen Dingen befasst, dann wird er oder sie die bildnerische Umsetzung seiner/ihrer Ideen in Musik auch mit dem Auge des Bildgestalters tun. Daher war möglicherweise der Zugang für mich doch schnell zu finden. 

Es ist beim zweiten Stück des Nachmittags dann ein ungewöhnlich buntes Ergebnis entstanden. Ich wollte einfach den Klängen eigene Farben zuordnen. Leider wurden es dann immer mehr und ich habe irgendwann den Überblick verloren. Dennoch will ich mein Ergebnis nicht unterdrücken, ich finde, es darf hier auch erscheinen. Mein Liebling ist aber die Kohlezeichnung, der zweite Versuch. Da war ich ganz im Stück versunken.

Tobias Ruppert, „Morton Feldman – String Quartet and Orchestra, Versuch 2“, Kohle auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Morton Feldman – For John Cage“, Kohle und Graphit auf Papier, 120 cm x 100 cm

Neunter Tag, 7. Dezember 2019

Nachdem getern ein sehr wichtiger Tag war, nämlich eine Pause, geht geht es heute weiter. Was ich mir vorgestern Abend nicht vorstellen konnte, habe ich dann heute doch noch durchgezogen. Ich habe mir Morton Feldmans Komposition „For John Cage“ (1982) zur Brust genommen. Oder, eigentlich müsste ich sagen, die Musik hat mich für sich eingenommen. Die Aufnahme von Erik Carlson & Aleck Karis aus dem Jahr 2018 dauert 1:11:46, gut, dass ich einen großen Bogen Papier vorbereitet hatte. Doch die Langsamkeit, in der sich die Musik entwickelt, ließ meine Srategie nicht aufgehen. Nach dem letzten verklingenden Ton war das Blatt noch nicht zu einer Grafik geworden, sondern erst mitten darin. Was also tun … ich entschied mich, einfach noch einmal einzusteigen. Das war zwar dann schon mühsam, aber ich finde, es hat dem Blatt gut getan.

Zur „Entspannung“ habe ich mir dann noch einmal Tristan Murail vorgenommen, das Stück „Une Lettre de Vincent“, gespielt von Marie Ythier, Samuel Bricault und Marie Vermeulin. Diese 7 Minute 47 Sekunden waren doch eine leichte Übung, im Vergleich zum restlichen Tag. Ich habe bei einer zeriten Runde sogar noch einen zweiten Bogen Papier bearbeitet, der muss aber noch einmal dran, da bin ich noch nicht einig. 

Tobias Ruppert, „Tristan Murail – Une Lettre de Vincent, Versuch 1“, Kohle, Tusche auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Tristan Murail – Une Lettre de Vincent, Versuch 2“, Kohle und Rötel auf Papier, 70 cm x 100 cm

Zehnter Tag, 8. Dezember 2019 Fortsetzung

Also, hier noch die überarbeitet zweite Version von der Komposition von Tristan Murails  „Une Lettre de Vincent“. Die Bildanlage von gestern hat mich leider dazu verleitet, eine düstere Version zu erschaffen. Möglich, dass hier unterbewußt van Goghs Nachtbilder Pate gestanden haben? Ich will es einmal nicht ausschließen, denn ich hatte mich schon um die Jahrtausendwende einmal mit diesem Thema beschäftigt, mit einer ähnlichen, allerdings gespiegelten Komposition und zudem noch als Holzschnitt … lang ist’s her.

Zehnter Tag, 8. Dezember 2019

Carola Bauchtholt hat Ihre Kompositionen unter dem Überbegriff „Ich muß mit Dir reden“ 2015 vom norwegischen Ensemble Cikada einspielen lassen. Davon habe ich mir für den heutigen Tag die die Stücke „Sog“ und „Laufwerk“ herausgesucht. Bauchtholt arbeitet mit Klängen des Alltags, ebenso aber auch mit dem klassischen zeitgenössischen musikalischen Instrumentarium. Sie kommt vom Theater und hat, so scheint es mir, eine großartige Fähigkeit, durch Klänge reale Bilder enststehen zu lassen. Da sie auch Text einsetzt, entstehen regelrecht Handlungen, ohne dass es ein Singspiel o. Ä. wäre. Die MAterialität der Klänge habe ich teilweise versucht mit der Technik der Frottage umzusetzen. Das ist aber bei weitem nicht ein Abbild der tatsächlich wahrzunehmenden und auch realen O-Töne. Carola Bauchtholt ist Jahrgang 1959 und damit eine Person, die zusammen mit vielen anderen unserer Gerneration, Spartenübergreifend arbeitet. Wunderbar.

Tobias Ruppert, „Carola Bauchtholt – Sog, Versuch 2“, Kreide und Kohle auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Carola Bauchtholt – Laufwerk, Versuch 1“, Kreide und Graphit auf Papier, 70 cm x 100 cm

Elfter Tag, 9. Dezember 2019

Über den Süden Frankreichs fegt seit vergangener Nache ein Sturm. Die Wolken jagen über den blauen Himmel. Mehr Wettermetaphorik ist aber nicht zu haben. Hat auch zunächst gar nichts mit meiner heutigen Musikauswahl zu tun, obwohl man das schon meinen könnte. Ich habe mich heute der in meinem Aufenthalt bislang ältesten Komposition von 1940 zugewandt, einem Stück für Klarinette, Violine, Cello und Klavier. Komponiert von Olivier Messiaen der von 1908 bis 1992 in Frankreich lebte. Messiaen schrieb das Stück während seiner Kriegsgefangenschaft in Deutschland (Görlitz), die Instrumentierung richtete sich nach den im Gefangenenlager verfügbaren Musikern. Am 15. Januar 1941 wurde es im Gefangenenlager uraufgeführt, im Juni desselben Jahres dann wieder in relativer Freiheit in Paris mit fast derselben Besetzung. Die mir vorliegende Aufnahme ist ebenso historisch, denn sie wurde 1956 von eben diesen Musikern eingespielt: Olovier Messiaen, Jean Pasqier, Etienne Pasquier und Andre Vacellier.

Um den Bogen zur heutigen Witterung zu schlagen: Der Name des Stückes ist „Quatuor pour la fin du temps“, also Quartett für das Ende der Zeit(Welt), thematisch befasst es sich mit der Apokalypse des Johannes. Auf wikipedia gibt es eine Menge Informationen und Interpretationsansätze, die ich hier nicht wiedergeben will. Gelesen habe ich das alles erst nachdem ich mit dem ersten Versuch fertig war. Mein zweiter Anlauf ist sichtlich von den gewonnenen Informationen geprägt, wie ich finde. „Quatuor pour la fin du temps“ gilt wohl als Wendepunkt zur zeitgenössischen Komposition, der Musik der Gegenwart. Viele Komponisten, die ich als Heroen der Neuen Musik kennen lernen konnte, beziehen sich auf Messiaen, waren auch seine Schüler. Also bin ich doch sehr froh, dass ich mich der Sache heute so ausführlich angenommen habe. Fürs Protokoll: Die Aufnahme läuft 44 Minuten.

Tobias Ruppert, „Olivier Messiaen – Quatuor pour la fin du temps, Versuch 1“ Graphit und Tusche auf Papier, 80 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Olivier Messiaen – Quatuor pour la fin du temps, Versuch 2“ Kohle und Tusche auf Papier, 70 cm x 100 cm

Zwölfter Tag, 10. Dezember 2019

Die Arbeit des zwölften Tages war so erschöpfend, dass es mir leider erst am dreizehnten Tag zu berichten gelingt. Ich hatte mir ein Konzert von den Donaueschinger Musiktagen 2019 mit drei Uraufführungen von der SWR-Klassik-Seite heruntergeladen. Das Ensemble Resonanz aus Hamburg spielte, geleitet von Bas Wiegers, das SWR Experimentalstudio mit der Klangregie von Joachim Haas, Thomas Hummel, Markus Radke trug seinen wesentlichen Teil zum Konzert bei. Drei Kompositionsaufträge vom SWR wurden uraufgeführt, den Auftakt machte das Stück „Sepulchure“ der Kanadierin Nicole Lizée (geboren 1973). Lizée komponierte das Stück für Streichorchester, Schlagzeug, Klavier und Audio-Einspielungen. Letztere Klänge stammen von elektronischen Spielzeugen. Wer die Musik hört, dem kommen einige der Sounds durchaus bekannt vor. Entsprechend „bunt“ habe ich die gesamte Sache wahrgenommen. 

„Remember me“, das zweite Stück des Konzerts, stammte von dem Komponisten Gordon Kampe, Jahrgang 1976 . Er hat in seiner Komposition Audiobotschaften eingefügt, die ihm die Musikerinnen und Musiker des Abends vorab geliefert haben. Thema: mein erstes erinnerliches Lied. Schön, wie sich „der Maikäfer“ schon in den ersten Takten wiederfindet.

Der zweite Teil des Konzerts war dem Komponisten und ehemaligen künstlerischen Leiter des Experimentalstudio des SWR gewidmet, der heute Komposition unterrichtet: Mark Andre (geboren 1964). Da ich in Stuttgart seine Oper „Wunderzaichen“ zwei Mal erleben durfte, habe ich mich auf diesen Teil besonders gefreut. Andre geht in seinem Werk sehr bildnerisch konzeptuell vor, er verfrachtet Klänge eines Orte an andere Orte, speichert diese dort wiederum um sie in seine Musik einzubetten. Es entstehen zarte, aber klar gegliederte Landschaften, Projektionsflächen, die aber ineinander verschachtelt, verschränkt und damit räumlich wirken. Das Stück heißt „rwh 1“.

Ich habe das Konzert einmal in seiner ursprünglichen Reihenfolge gehört und dazu gearbeitet. Anschließend zwei Mal in umgekehrter Reihenfolge. Leider wusste ich durch die Art der Aufzeichnung, also einem Radiobeitrag, schon jeweils vor dem Stück, was zu erwarten war, durch die redaktionelle Aufbereitung der Sendung. Das ist eine in meinem Konzept bisher nicht angewandte Form. Sonst gehe ich vollkommen unvoreingenommen in die erste Runde und informiere mich dann erst im Laufe der Arbeit. Ich werde diese Form nicht mehr so machen, da ich das Gefühl habe, dass mein erster Eindruck schon nicht mehr unverstellt ist.

Tobias Ruppert, „Nicole Lizée – Sepulchure, Versuch 1“, Kreide auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Nicole Lizée – Sepulchure, Versuch 2“, Kreide auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Gordon Kampe – Remember me, Versuch 1“, Kohle und Kreide auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Gordon Kampe – Remember me, Versuch 2“, Kohle und Graphit auf Papier, 75 cm x 100 cm

(Wer genau hinschaut, wird im Bild einen Schreibfehler entdecken, den der Künstler leider erst bei der Bildbearbeitung des Reprodukion bemerkt hat. Die „Verbesserung“ ist hier noch nicht dokumentiert.)

Tobias Ruppert , „Mark Andre – rwh 1, Versuch 1“, Graphit auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert , „Mark Andre – rwh 1, Versuch 2“, Graphit auf Papier, 100 cm x 120 cm

Dreizehnter Tag, 11. Dezember 2019

 

Georges Aperghis ist ein in Athen geborener, seit den frühen 60-er Jahren in Paris lebender Komponist. Als Autor von Musiktheaterstücken hat er sich einen Namen gemacht, die Mehrzahl seiner Werke ist aber im kammermusikalischen Zusammenhang zu sehen. Ich habe mir heute sein Stück aus dem Jahr 1995 für Marimbaphon und Klavier herausgesucht, mit dem Titel „Quatre Pièces fébriles“ (vier fiebrige Stücke). Simone Beneventi und Andrea Rebaudengo haben 2016 die Einspielung gemacht, Dauer aller vier Sätze: ca. 17 Minuten. Es ist ein Zwiegespräch zwischen zwei sehr charakterstarken Persönlichkeiten in all seinen Facetten. Laut, aggressiv, zart, zurückgenommen, vorauseilend, hinterherhinkend, … eben wie im echten Leben. Zum Zeichnen denkbar schwierig, spröde. Für die Einzelstimmen Formen zu finden, ihr Verhältnis zueinander zu beschreiben, war denkbar schwer.

 

Weil heute Vormittag noch Grafik-Design zu machen war, ist es Nachmittag geworden, bis ich loslegen konnte. Hier in Südfrankreich ist inzwischen der Sturm zurück. Irgendwie hat mich die Musik heute schon darauf vorbereitet. Zischen, Knurren, Türenschlagen. Alles dabei. Morgen soll wieder die Sonne scheinen, mal sehen …

Tobias Ruppert, „Georges Aperghis – Quatre Pièces fébriles, Versuch 1“, Kohle, Pastellkreide, Tusche auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Georges Aperghis – Quatre Pièces fébriles, Versuch 2“, Graphit und Tusche auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Georges Aperghis – Quatre Pièces fébriles, Versuch 3“, Kreide auf Papier, 70 cm x 100 cm

Vierzehnter Tag, 12. Dezember 2019

 

Auf meiner Liste stand heute ein italienischer Komponist, Giacinto Scelsi (1905 – 1988), über den ich hier nicht viel berichten kann. Er ist wohl als Komponist eher eine Ausnahmeerscheinung, da er sich der musikalischen Moderne wohl nicht eindeutig zuordnen lässt. Sein Kompositionsverfahren ist aber tatsächlich ungewöhnlich für seine Zeit: Er improvisierte selbst und zeichnete dies auf Tonband auf. Diese Improvisationen lies er von ungenannten Fachleuten in Notenschrift übertragen. Scelsi ist einer der ersten, die Mikrotonalität zu einem wesentlichen Stilmittel in ihrer Musik gemacht haben. Seine Einflüsse bezieht er auch aus Reisen in den Fernen Osten.

 

Drei Stücke habe ich mir ausgesucht, eines für Solo-Cello, virtuos gespielt 2017 vom Marco Simonacci, mit dem Titel „The three Stages of Man“ (alle Sätze dauern insgesamt ca. 51 Min.).

Um auch noch einen Eindruck zu erhalten, wie sich seine Kompositionen für Ensemble darstellen, habe ich eine Aufnahme vom Ensemble Phoenix aus Basel gefunden. Die Stücke „Pranam I & II“ sowie „Riti: I funerali d’Achille“ habe ich mir zwei bzw. ein Mal zu Gemüte geführt. Ich muss sagen, das war keine gute Idee. Irgendwie bekam ich keinerlei Zugang zu letztgenannten.

Tobias Ruppert, „Giacinto Scelsi – The three Stages of Man, Versuch 1″, Kreide auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Giacinto Scelsi – The three Stages of Man, Versuch 2″, Graphit auf Papier, 80 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Giacinto Scelsi – Pranam I & II, Versuch 2″, Graphit und Tusche auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Giacinto Scelsi – Riti: I funerali d’Achille, Versuch 1″, Kohle auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Luigi Nono – Hay que caminar soñando, Versuch 1“, Kohle und Graphit auf Papier , 70 cm x 100 cm

 

Fünfzehnter Tag, 13. Dezember 2019

 

Lange habe ich es hinausgeschoben, doch heute war ich soweit: Die etwas über zweistündige Aufnahme von Luigi Nonos (1924 – 1990) großer Komposition „Prometeo. Tragedia Dell’Ascolo“, einer Oper (oder wie es bei Wikipedia bezeichnet wird: Hörtheater) für fünf Vokalsolisten, zwei Sprecher, Chor, vier Orchestergruppen, sieben Gläser, sechs Instrumetalsolisten, zwei Dirigenten und Live-Elektronik. Die Ausführenden meiner Aufnahme von 2019 sind: Parma Teatro Regio Chorus, Ensemble Prometeo, Filarmonica Arturo Toscanini & Marco Angius.

Das Werk ist eigentlich auf Raumklang ausgelegt, der natürlich in der Konserve, so wie sie mir vorliegt, nicht möglich ist. Doch zu meinem großen Glück konnte ich vor vielen Jahren eine Aufführung in Köln miterleben. Dankenswerterweise hatte mein Schwager, der Toningenieur im Experimentalstudio des SWR ist und damals an der Aufführung beteiligt war, Karten für dieses einmalige Erlebnis beschaffen. So habe ich jetzt nach Jahren das Stück wieder gehört und bin erstaunt, wie gut ich mich doch insgesamt erinnern konnte. Natürlich keinesfalls an Details, aber die Gesamtheit der Hörerlebnisses war mir sehr vertraut.

 

Luigi Nono komponierte dieses Werk am Ende seiner Schaffenszeit 1984/85, seine umfangreiche Erfahrung mit dem Einsatz von elektronischen Verfahren in der Wiedergabe von Klang – auch live – ist hier umwerfend eingesetzt.

 

Ein noch späteres Werk, nämlich von 1989, für zwei Violinen ohne Elektronik ist das wunderschöne, emotionale und auch sehr zerbrechliche „Hay de caminar soñando“. Das hat für mich den Tag zu einem sehr glücklichen Hörerlebnis gemacht. Die Aufnahme stammt von 2011, die Musiker sind Irvine Arditti und Graeme Jennings.

Tobias Ruppert, „Luigi Nono – Prometeo. Tragedia dell’Ascolto, Versuch 1“, Graphit und Kreide auf Papier, 100 cm x 120 cm

Reprise

14. Dezember 2019

 

Eigentlich sollte heute ein arbeitsfreier Tag sein. Er war es auch. Man stelle sich bitte einen kieferngesäumten Strand an Steilküste, Felsabbrüche in Ocker bis gebranntem Siena, türkisfarbenes Wasser, einen warmen, aber starken Wind und weitgehende Entvölkerung vor … genau das war mein Zeitvertreib am arbeitsfreien Tag. Es war schön und tat auch noch gut … so gut, dass ich dann abends doch noch zu den Stiften griff. Und so habe ich mich nochmals eine Runde mit Tristan Murails „Attracteurs étrangers“ beschäftigt (einfach nur die wirklich bewegende Aufnahme zu hören, gingt einfach nicht) und dann waren es noch die „Shaker Loops“ (1978) von John Adams. Dieses Stück hatte ich vorher schon mehrmals als Grundlage zum Zeichnen verwendet, es war mir also schon bekannt. Daher hatte ich das bisher ausgelassen. Aber auf der grandiosen Entdeckungsliste von Ulrike Stortz war dieses Stück aufgeführt (ich vermute, weil sie bei der Einspielung des „ensemble modern“ 1997 selbst beteiligt war), daher wollte ich das in Angesicht der Tatsache, dass meine Zeit hier nun sichtbar dem Ende entgegengeht, noch dringend nachholen.

Tobias Ruppert, „John Adams – Shaker loops, Versuch 1“ Graphit auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Tristan Murail – Attracteures étrangers, Versuch 3“, Graphit und Kohle auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Gérard Grisey – Espaces Acoustiques I+II, Versuch 1“, Kohle auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Gérard Grisey – Espaces Acoustiques III+IV, Versuch 1“, Kohle auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Gérard Grisey – Espaces Acoustiques V+VI, Versuch 1“, Kohle auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Gérard Grisey – Espaces Acoustiques I – VI, Versuch 2“, Graphit und Tusche auf Papier, 100 cm x 120 cm

Sechzehnter Tag, 15. Dezember 2019

 

Gérard Grisey ist als weiterer Vertreter der Spektralmusik (Kompositionsform, die sich der physikalischen Analyse von Klang bedient und dabei auch moderne Datenanalyse- und verarbeitungssysteme verwendet) heute mein Begleiter und Motivator. Geboren 1946 im französischen Belfort starb er bereits 1998. Er war Kompositionsschüler von Olivier Messiaen und gründete zusammen mit Tristan Murail und weiteren Komponisten 1973 die Gruppe „l’itineraire“, die sich moderner Kompositionsformen anhand genauer Untersuchung von Klang widmete, z. B. die Einbeziehung des Obertonspektrums in die Komposition.

 

Sehr der Bildenden Kunst zuträglich schon der Titel meiner heutigen Musikauswahl: „Les Espaces Acoustiques“ die sechs Sätze sind in zeitlich lockerer Abfolge entstanden (also nicht innerhalb eines eingegrenzenten Zeitraumes) und ich meine wahrzunehmen, dass Grisey es hier tatsächlich gelungen ist, unterschiedliche Räume zu beschreiben und zu eröffnen:   I. Prologue (1976, für Viola), II. Périodes (1974 für sieben Musiker) III. Partiels (1975, für sechzehn/achtzehn Musiker) IV. Modulations (1976/77 für 33 Musiker) V. Transitoires (1980/81 für großes Orchester) VI. Épilogue (1985 für vier Solohörner und großes Orchester). 

Ich habe die sechs Sätze zwei Mal durchgearbeitet, ein mal je zwei Sätze in eine Komposition zusammengefasst (woraus also ein Tryptichon entstanden sein könnte) und ein Versuch, bei dem ich alle sechs Grisey’schen Räume versucht habe, auf einem großen Bogen zusammenzufassen. 

Tobias Ruppert, „Albrecht Imbescheid – Die Farben der Stille (I – V und Epilog), Versuch 2″, Kohle und Tusch auf Papier, 100 cm x 80 cm

Siebzehnter Tag, 16. Dezember 2019

 

Vorausblickend auf ein Konzert, das am 2. Februar 2020 im Rahmen von „TonArt“ in Esslingen stattfinden wird, habe ich mich heute zwei Stücken aus dem Programm gewidmet. Das Konzert wird sich programmatisch um die Darstellung von Farbe in der Musik drehen, daher war der erste Teil meines Tages dem Stück „Die Farben der Stille“ des Esslinger Komponisten und Flötisten Albrecht Imbescheid gewidmet. Die Einspielung entstand 2003 und wurde vom Ensemble „gelberklang“ realisiert. 

Ich kenne Albrecht Imbescheid aus seiner Zeit als Leiter der Musikschule Ostfildern, weiß aber seit Langem, dass er schon jetzt auf ein großes kompositorisches Werk  blicken kann und zusätzlich einer der wichtigsten Organisatoren und Beförderer von Konzerten Neuer Musik in Stuttgart und der Region ist. 

Besonders freue ich mich auch, dass ich selbst mit einer Live-Grafik-Improvisation Teil des Konzertabends sein werde.

 Für alle vier Blätter des heutigen Tages habe ich mir vorgenommen, etwas mehr Farbe zu wagen. Auch, um dem Konzertprogramm vom 2. Februar gerecht zu werden …

Das zweite Stück heute ist eine Klaviersonate (Nr. 9, Op. 68) des russischen Komponisten Alexander Skrjabin (1871 – 1915). Die auch „schwarze Messe“ genannte Sonate ist auf die Jahre 1911-13 datiert. Die Einspielung von Pierre-Laurent Aimard dauert 8 Minuten.

Tobias Ruppert, „Albrecht Imbescheid – Die Farben der Stille (I – V und Epilog), Versuch 1″, Graphit und Kreide auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Alexander Skrjabin – Klaviersonate Nr. 9, Op. 68 (Schwarze Messe), Versuch 1“, Kohle und Tusche auf Papier, 70 cm x 100 cm

Achtzehnter Tag, 17. Dezember 2019

 

Enno Poppe, die zweite … etwas war noch auf der Liste: Enno Poppes „Holz“ für Klarinette und kleines Ensemble von 2000, nur leider gab es diese Version nicht im Stream, daher habe ich mich mit der für Fagott geschriebenen Solo-Version befasst. Ein tolles Stück. Leider bin ich falsch losgelaufen und musste dann die Deckfarbe zur Hilfe nehmen, um das Blatt zu retten. Weil ich übermütig wurde, habe ich gedacht, ich könnte dann doch noch etwas von Poppe mit Ensemble probieren. Also habe ich mir eine Aufnahme der Donaueschinger Musiktage von 2013 vorgenommen. Her ist das Klangforum Wien mit Poppe selbst zu hören mit dem Stück „Speicher I – VI“ (2008 – 2013). Leider habe ich mir da wohl zu viel vorgenommen, aber ich hatte beim Hören die ganze Zeit das Gefühl, als Hörer nicht ernst genommen zu werden. Zu erklären habe ich mir das so versucht: Ein Speicher ist voller Informationen, besonders bei einer Rechnerfestplatte sektioniert und völlig chaotisch, der Rechner speichert die Daten stückchenweise da ab, wo Platz ist. In einem Haus mag das mit den privaten Dingen ähnlich sein. Dass sich mir aber nicht einmal ein Satz in dieser Komposition halbwegs als Einheit darstellt, habe ich einfach nicht verstanden. Dazu komme ich vermutlich in große Not, wenn ich denjenigen, die mich ohnehin schon als abgedreht bezeichnen, weil ich mich mit den Zeitgenossen befasse, anhand dieses Stückes erklären soll, warum das gute Musik ist. Ein ungeübtes Unterstufenorchester mag für manchen Ähnlichkeiten zu diesem heutigen Hörerlebnis haben. 

 

Dann, als zweiten Arbeitsteil des Tages (nach einem Waldspaziergang) kam ich zu dem österreichischen Komponist Georg Friedrich Haas (geb. 1953). Er ist einer der Vertreter der Spektralmusik (wie auch Murail und Grisey). Mikrointervalle und Obertonreihen charakterisieren seine Kompositionsweise. Haas lehrt Komposition an unterschiedlichen Hochschulen und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ich kenne bislang nur wenige seiner Werke, diese haben mich aber begeistert. Ich hatte mir einiges zur Auswahl mitgenommen, entschied mich aber heute für eine Aufnahme, bei der wiederum Enno Poppe als Dirigent sowie das Experimatalstudio des SWR und das Collegium Novum Zürich beteiligt waren. Das Stück heißt „… und… (first version)“ (2008/09) und dauert 27 Minuten.

Tobias Ruppert, „Enno Poppe – Holz Solo für Fagott, Versuch 1″, Kohle, Acrylfarbe, Kreide auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Enno Poppe – Speicher I – VI, einziger Versuch“, Graphit, Acrylfarbe, Kreide auf Papier, 100 cm x 80 cm

Tobias Ruppert, „Georg Friedrich Haas – … und … (first Version), Versuch 1“, Graphit auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Georg Friedrich Haas – … und … (first Version), Versuch 2“, Graphit auf Papier, 80 cm x 100 cm

Neunzehnter Tag, 18. Dezember 2019

 

Heute geht es mit G. F. Haas weiter, auch, weil nur ein halber Tag zur Verfügung steht (Einkäufe müssen getätigt werden). Also habe ich mir eine Einspielung des Stücks „Hommage à György Ligeti“ aus dem Jahr 1984, gespielt von Mabel Kwan, vorgenommen. Die Aufnahme dauert 30 Minuten, 6 Sekunden. Ich wusste lediglich, dass es sich um Klavier Solo handelt. Mehr nicht. Die beiden Ergebnisse sind sich in ihrer Art natürlich ähnlich, ich schreibe jetzt einmal nicht dazu, welches der erste Versuch war. Vielleicht möchte mir ja jemand schreiben, der sich die Lösung denken kann.

Tobias Ruppert, „Georg Friedrich Haas – Hommage à György Ligeti, Versuch X“, Kohle auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Georg Friedrich Haas – Hommage à György Ligeti, Versuch X“, Kohle auf Papier, 100 cm x 70 cm

Tobias Ruppert, „Georg Friedrich Haas – De Finis Terrae, Versuch 1“, Kohle und Tusche auf Papier, 100 cm x 80 cm

Tobias Ruppert, „Georg Friedrich Haas – De Finis Terrae, Versuch 2“, Graphit auf Papier, 70 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Julia Wolfe – Cruel Sister, for String Ensemble, Versuch 1“, Kohle und Kreide auf Papier, 70 cm x 100 cm

Zwanzigster Tag, 19. Dezember 2019

 

Ich kann es nicht lassen, jetzt habe ich mir heute noch einmal Georg Friedrich Haas vorgenommen. Dieses Mal nicht Soloklavier sondern Sologeige. Miranda Chuckson spielt das Stück aus dem Jahr 2001 mit dem Titel „De Finis Terrae“. Spieldauer knapp 20 Minuten. Zunächst hatte ich etwas Schwierigkeiten, reinzukommen, doch spätestens mit dem zweiten Versuch bin ich sehr zufrieden. Und: Ich habe mir eine neue Tusche gegönnt, auch mit der Farbwahl bin ich sehr zufrieden. Es hängt natürlich davon ab, mit welchem „Device“ man das Bild ansieht, eigentlich sollte der Farbton in etwa gebranntem Siena entsprechen.

 

Als zweite Komponistin des heutigen Tages und bisher noch nicht dran gewesen ist die Amerikanerin Julia Wolfe. Sich gehört nicht zu den alten Cracks der Minimal Music, ist auch zehn bis fünfzehn Jahre Jünger als deren Hauptvertreter. Aber ein Einfluss ist auf jeden Fall zu hören, wie ich finde. Wolfe lehrt Komposition in New York und hat 2015 den Pulitzer Preis für Komposition erhalten. Das Stück „Cruel Sister – for String Ensemble“ ist im Jahr 2004 erschienen und dauert etwa 30 Minuten. Die Einspielung, die meiner Arbeit zugrunde lag, wurde vom Ensemble Resonanz unter Brad Lubman 2011 realisiert. Hier habe ich beim zweiten Versuch eine Art Mitschrift angefertigt, wobei die Zeilen jeweil von links nach rechts und in der nächsten Zeile entgegengesetzt zu lesen wären. Aber spielen lässt sich das so natürlich nicht, oder wenn doch, kommt natürlich nicht das Original heraus. Aufgrund des zeitweiligen Tempos musste ich Auslassungen hinnehmen, schließlich habe ich versucht mehrere Stimmen gleichzeitig zu erfassen. Weil der Platz auf dem großen Standardbogen nicht gereicht hat, wurde es kurzerhand ein Diptychon.

Tobias Ruppert, „Julia Wolfe – Cruel Sister, for String Ensemble, Versuch 2“, Kohle und Kreide auf Papier, 200 cm x 100 cm

Tobias Ruppert, „Henry Purcell – Dido and Aeneas, Versuch 1“, Graphit und Tusche auf Papier, 100 cm x 70 cm

Einundzwanzigster Tag, 20. Dezember 2019 – letzter Tag

 

 

Mit dem heutigen Tag endet mein vorweihnachtliches Arbeitsexil. Es waren sehr intensive Tage, geprägt von wunderbaren musikalischen Entdeckungen und manchem zufrieden stellenden Blatt. 

 

Als letzte Herausforderung habe ich mir Musik aus dem Barock vorgenommen, Henry Purcells Oper „Dido and Aeneas“ aus dem Jahr 1689. Das war aus mancher Hinsicht eine neue Erfahrung, denn auf mich wirkt Musik aus dieser Epoche meist so, wie ich es für mein Projekt nicht haben wollte: Beruhigend, entspannend, kontemplativ. Nicht zum „hin“hören geeignet, da doch für den ungeübten Hörer zu gleichförmig. Aber: Natürlich habe ich hingehört, habe mich bemüht und mit meinem ersten zeichnerischen Versuch einen Weg gefunden, mit dem Gehörten umzugehen und eine bildnerische Form zu finden, die meinen Vorstellungen am besten entspricht (Versuch 2). 

Tobias Ruppert, „Henry Purcell – Dido and Aeneas, Versuch 2“, Graphit und Tusche auf Papier, 100 cm x 120 cm